Vom Leben mit Krankheit und Existenzfragen

Als ich im Sommer letztes Jahr zwei Wochen in einer Naturheilkundeklinik verbrachte, sagte eine Mitpatientin einen sehr klugen Satz zu mir. Dieser lautet: “Wenn Du gesund bist, hast Du viele Wünsche, wenn Du krank bist, hast Du nur einen Wunsch.” Ich bin jetzt 37 Jahre alt. Ich beziehe seit 7 Monaten Krankengeld. Ich lebe seitdem in einer anderen Welt. In der “Welt der Kranken”. Dass es diese Welt überhaupt gibt, habe ich vorher nicht mal gewusst.

Wenn Du krank bist und nicht mehr funktionierst, gehörst Du schnell nicht mehr dazu. Die “Anderen”, also die Gesunden, plagen sich mit Problemen rum, die Du nicht mehr nachvollziehen kannst. Freizeitstress durch überfüllte Terminkalender (übrigens eins der meisten Probleme in meinem Freundes- und Bekanntenkreis) sind schon länger kein Bestandteil meines Wortschatzes mehr. Über gedankliche Dramen bei der Frage wo der nächste Urlaub hingehen soll (Langstrecke oder Holland) kann ich nur noch die Achseln zucken. Wenn dann noch gejammert wird, dass man wegen eines grippalen Infekts mal zwei oder drei Tage zu hause bleiben musste, bin ich raus. By the way, als ich selber noch auf der anderen Seite stand, war ich ganz genau so: Der Terminplaner war immer voll mit Verabredungen oft Wochen in Voraus. Manchmal hatte ich das Gefühl, meine Freizeitaktivitäten regelrecht abzuarbeiten wie berufliche Termine.

Aber zurück zu heute. Momentan habe ich eigentlich nur noch Arzttermine in meinem Kalender stehen. Verabredungen über mehrere Tage im Voraus klappen eigentlich nie. Außerdem bin ich so müde geworden. Eine Unterhaltung länger als 2 Stunden aufrechtzuerhalten, womöglich noch in einem lauten Café wird mir direkt anstrengend und die Schmerzen werden stärker. Hat eine Freund*in einen längeren Anfahrtsweg, fühle ich mich gleich unter Druck auch länger durchhalten zu müssen. Das führt jedenfalls dazu, dass ich nur noch einen kleinen Teil meiner Freund*innen sehe, nämlich die, die glücklicherweise um die Ecke wohnen und die ich auf einen Spaziergang treffen kann.

Ist es nicht traurig, dass man kaum noch für Veranstaltungen Karten an der Abendkasse kaufen kann? Wann sind wir nur alle so unspontan geworden? Das ist jedenfalls der Grund, warum ich schon lange nicht mehr im Theater oder auf einem Konzert war. Ich habe letztes Jahr schon so viel Geld in den Sand gesetzt, ich überlege mir das mittlerweile zweimal. Was häufiger mal klappt, ist ein Kinobesuch, vorzugsweise nachmittags und dann aber nichts mit schnellen Schnitten und plötzlichen lauten Geräuschen und der Sitzplatz darf auch nicht zu nah an der Leinwand sein.

Es ist schon alles sehr kompliziert geworden.

Reisen waren mir die letzten Jahre eigentlich immer mit das wichtigste. Heute denke ich mir, wozu Geldausgeben, wenn ich im Endeffekt dann an einem anderen Ort die meiste Zeit im Bett oder auf der Couch liege?

Ein Thema was mich aber noch viel mehr beschäftigt, ist die Frage nach meiner finanziellen Zukunft. Wenn ich mich in den nächsten Monaten nicht berappel, wird die Krankenkasse mich zwingen, eine Reha zu machen. Nichts gegen eine Reha, die würde mir sicher gut tun. Aber welches Wunder soll da verbracht werden, dass meine Schmerzen plötzlich weniger werden? Dann werde ich einen Rentenantrag stellen und vor dem einen oder anderen Gutachter “vortanzen” müssen. Unangenehm. Gesetzt dem Fall eine Erwerbsminderungsrente wird genehmigt, stehen mir in etwa 1000 Euro netto im Monat zu. Das hatte ich zuletzt im Studium zur Verfügung. Ich will nicht sagen, dass man davon nicht leben kann (die Bäckereifachverkäuferin kann es ja irgendwie auch). Aber ich werde meinen Lebensstandard verlieren. Ich werde mein Auto verkaufen müssen. Ich werde mir weder die guten Lebensmittel noch die besseren Medikamente mehr leisten können. Vom Reisen kann ich dann erst recht nur noch träumen.

Ich habe vor zehn Jahren noch einmal ein Studium angefangen und einige Entbehrungen damals auf mich genommen. Ich habe schon einmal mein Auto verkauft, bin in eine kleinere Wohnung gezogen, habe jeden Euro zweimal umgedreht und am Ende noch 7000 Euro BAföG zurückgezahlt. Das alles zu einem Zeitpunkt, wo meine Freund*innen anfingen, Häuser zu kaufen und Kinder zu bekommen. Ich weiß noch wie ich damals versucht habe möglichst nicht zum Arzt zu gehen, weil ich mir die damalige 10 Euro Praxisgebühr eigentlich nicht leisten konnte. Ich habe das trotzdem alles gerne gemacht, denn ich habe in meine berufliche und finanzielle Zukunft und Zufriedenheit investiert.

Wer weiß, ob ich nach einigen Jahren Berufsunfähigkeit überhaupt noch einmal eine gut bezahlte Vollzeitstelle bekomme? Bin ich dann überhaupt noch attraktiv für den Arbeitsmarkt?

Werde ich den Rest meines Lebens vielleicht nicht nur Schmerzen haben, sondern auch arm sein?

In der Vergangenheit habe ich übrigens nicht mal in Erwägung gezogen, eine Berufsunfähigkeitsversicherung abzuschließen. Mir ist kein Grund eingefallen, warum ich nicht mehr arbeiten können sollte.

Ist es nicht erschreckend, wenn Dich die eigene Naivität irgendwann einholt?

 

3 Kommentare bei „Vom Leben mit Krankheit und Existenzfragen“

  1. Hey Inga,
    was für ein schöner Artikel!!
    Wie konnte mir dein Blog so lange entgehen? Ich bin ganz begeistert.
    Du schreibst mir aus der Seele 🙂
    Lieben Gruß,
    Nina
    PS: Ich habe übrigens in jungen Jahren mal versucht, eine Berufsunfähigkeitsversicherung abzuschließen und bin abgelehnt worden, weil ich damals schon Migräne hatte (damals noch gaaaaanz selten) und man das angeben musste. Also wer weiß, vielleicht hättest du eh nichts machen können…

  2. Liebe Inga,
    bin gerade auf deinen Blog gestossen. Ich (64 Jahre) habe mich dermassen wieder erkannt (du siehst sogar aus wie ich vor vielen Jahren) in deinen Schilderungen. Bitte mach weiter, deine Texte sind super (bin Biologieprofessorin und korrigiere ein Menge Texte).
    Ein Trost vielleicht: nach den Wechseljahren ist die Migräne bei meiner Mutter ganz weg, und bei mir wenigstens schwächer (nicht seltener) geworden. Seit Jahresanfang bis Juni hatte ich 80% der Zeit Migräne, soviel Triptane kann man ja gar nicht schlucken. Ich habe aus Verzweiflung ab Juni Käse (bin Vegatarieren :-/), Zitursfrüchte (liebe ich) und jeglichen Alkohol (geht auch ohne sowie auch den roten (selbergemachten) Traubensaft weggelassen (stand alles auf einer Liste einer Migränewebseite) und hatte bisher nur einen einzigen richtigen Migränetag!!! Hat sonst noch jemand Erfahrungen mit der Auswirkung von Lebensmitteln? Dir liebe Grüsse und “Kopf hoch” (sic!)- Lisa

    1. Liebe Lisa,
      vielen Dank für deinen lieben Kommentar. Ich bin mal wieder nicht über neue Kommentare benachrichtigt worden, deswegen jetzt erst meine späte Reaktion *mit den Augen roll.
      Was die Ernährung betrifft, habe ich letztes Jahr viel mit weglassen probiert, leider hat das nichts verändert. Ich esse mittlerweile wieder ganz normal, einzig auf Alkohol verzichte ich und ich muss darauf achten regelmäßig und ausreichend zu essen, dass ich nicht unterzuckere. Denn das löst bei mir zuverlässig Migräne aus.
      Ich habe neulich noch gelesen, dass in groß angelegten Studien kein direkter Zusammenhang zwischen bestimmten Nahrungsmitteln und Migräne gefunden werden konnte. Von daher denke ich mir, das Leben ist schon schwer genug mit soviel Schmerzen. Da kann ich wenigstens essen was ich will 😉
      Dass du gerade so wenig Migräne hast freut mich aber für dich.
      Ganz liebe Grüße!

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