Jahresrückblick 2019 oder auch 365 Tage Schmerzen

365 Tage Migräne oder einseitiger Dauerkopfschmerz. Vor zwei Jahren habe ich nicht mal gewusst, dass so was überhaupt möglich ist. Seit Januar 2019 blinkt mir in meinem Migränekalender jeden Monat aufs Neue die “volle Punktzahl” entgegen. Wäre Migräne eine olympische Disziplin, ich würde definitiv die Goldmedaille gewinnen.

Was schreibt man über ein Jahr, an dem man an jedem einzelnen Tag in irgendeiner Form an Schmerzen gelitten hat? Wie letztes Jahr die Migränetage aufzulisten, macht jedenfalls keinen Sinn mehr.

2019 war die reinste Achterbahnfahrt. Eine Schmerzmittelpause in Eigenregie im Januar hat mich körperlich und mental alle meine letzten Reserven gekostet und Ostern war ich psychisch so am Boden, dass ich kaum noch aufgestanden bin. Mein Hausarzt erfasste den Ernst der Lage und durch sein gutes Zureden konnte ich mich doch noch einmal auf einen Versuch mit einem Antidepressivum einlassen. Dieses schlug zum Glück sehr gut und schnell an, sodass ich motiviert war mich durch die Eindosierungsphase mit den ganzen Nebenwirkungen zu kämpfen. In der Zwischenzeit habe ich das Präparat noch einmal gewechselt, wodurch ich jetzt tolerable Nebenwirkungen und auch noch einmal eine bessere Wirkung habe. Hier hat sich das Dranbleiben definitiv gelohnt.

Was die Migräne betrifft, haben sowohl Botox als auch Aimovig (die “Migränespritze”) es nicht geschafft die Attackenfrequenz zu senken. Die Migränetage liegen weiterhin recht konstant zwischen 15 und 20 Tagen im Monat. Lediglich in der Intensität und Dauer gab es immer mal Schwankungen. Den Vogel schoss allerdings im September die 140 mg Dosis Aimovig ab, die mir anschließend 22 Migränetage bescherte, mit gerade mal einen halben Tag Pause zwischen den Attacken. Seitdem habe ich keine weitere Spritze gesetzt und mittlerweile hat mein Gehirn wieder zum alten Rhythmus zurückgefunden und ich bringe es zumindest mal vereinzelt auf 3 migränefreie Tage am Stück (dann aber weiterhin mit Dauerkopfschmerz).

Seit Januar gehe ich regelmäßig zu einem Psychotherapeuten und ich werde nicht müde immer wieder allen zu erzählen, wie sehr mir das hilft. Vielleicht ist die Psychotherapie tatsächlich die einzige von allen Behandlungsversuchen, die mich dieses Jahr in irgendeiner Weise weiter gebracht hat. Auch wenn ich dadurch nicht weniger Migränetage habe, so habe ich doch gelernt besser mit der momentanen Situation zu leben.

Die beste Erkenntnis dieses Jahr war vermutlich, dass ich schlichtweg keinen Einfluss auf die Attackenhäufigkeit habe und damit die Suche nach Triggern aufgab. Seitdem ist sehr vieles leichter geworden. Ich frage mich immer seltener, wie ich mich verhalten sollte, um keine Migräne zu bekommen, sondern was mir in diesem Moment guttun würde. Meistens ist das automatisch das, was auch meinen Kopf von größeren Eskalationen zurückhält. Manchmal aber auch nicht. Und ich habe gelernt damit ok zu sein, denn bei allem Elend habe ich auch ein Recht auf ein bisschen Spaß im Leben.

Eine weiteres Schlüsselerlebnis dieses Jahr war der Moment, in dem plötzlich alles Sinn machte. Ich habe mich immer gefragt, warum sich die Migräne so verkomplizieren konnte. Heute glaube ich, dass ich aufgrund meiner Lebensgeschichte schon seit Jahren auf einen großen Knall zugesteuert bin und mein Leben nur funktionierte, weil ich funktionierte. Als die Attacken dann häufiger wurde und ich nicht mehr wie gewohnt funktionieren konnte, geriet ich auch psychisch immer mehr in Schieflage, was wiederum die Migräne verstärkte und so kam eine Abwärtsspirale in Gang. Vermutlich brach ich so schnell komplett zusammen, weil ich schon viel länger erschöpft und ausgebrannt war. Ich war nur so sehr damit beschäftigt zu funktionieren, dass ich es nicht gemerkt habe (oder merken wollte).

Dieses Jahr sind neue Menschen in mein Leben gekommen, zu einem Zeitpunkt, wo ich mich als der einsamste Mensch auf der Welt gefühlt habe. Zum Beispiel ist da “meine” Instagram Community, die innerhalb von einem dreiviertel Jahr auf etwas über 300 Leute angewachsen ist und die ich gerne meine “Online-Selbsthilfegruppe” nenne. Ich kann gar nicht beschreiben, wieviel weniger alleine man sich fühlt, wenn man plötzlich mit seinen Sorgen und verrückten Ängsten verstanden wird. Über die digitale Plattform hinaus sind sogar zwei echte Freundschaften mit zwei Frauen entstanden, die wie ich mit ihrer Kopfschmerzerkrankung durchs Leben strugglen und von denen ich mich komplett verstanden und aufgefangen fühle, auch wenn ich zum fünfzigsten mal genau beschreiben will, wie und wo es gerade wehtut.

Ich glaube, ich habe noch nie so sehr die Menschen und guten Momente um mich rum wertgeschätzt wie dieses Jahr. Ich bin viele Kilometer spazieren gegangen, alleine und mit Freund*innen. Ich habe so viel geweint und mir Raum zum trauern gegeben wie noch niemals zuvor. Ich habe Ziegen und Hängebauchschweine wie Hunde gestreichelt und war glücklich. Ich war wütend und manchmal auch verzweifelt. Ich habe Ängste vor den alltäglichsten Dingen entwickelt und wieder losgelassen. Ich war so müde und erschöpft, dass ich abends nicht mehr die Kraft hatte, meinen Schlafanzug anzuziehen. Ich bin mit dem Auto nach Ostfriesland ans Meer gefahren und habe dort fast jeden Tag Migräne gehabt. Ich war in Kiel in der Schmerzklinik und bin mit der Diagnoseliste des Todes wieder zurückgekommen. Ich bin ein paarmal tanzen gewesen und habe aus Trotz ein Glas Weißweinschorle getrunken. Ich habe nach zwei Jahren einen Freund wiedergetroffen und es war, als hätten wir uns gestern erst gesehen. Ich habe viel Liebe erfahren. Ich bin in meinen Gefühlen ertrunken und habe wieder festen Boden unter den Füßen gewonnen.

2019 war ein Jahr, in dem ich so viel mehr als 365 Tage Schmerzen gefühlt habe. Ein Jahr in dem Freude und Leid keine “entweder oder” Frage war, sondern zur gleichen Zeit existierten.

Für nächstes Jahr habe ich keine großen Vorsätze gemacht. Die Migräne wird mich sicher noch weiter begleiten, auch wenn ich weiterhin davon überzeugt bin, dass sie irgendwann auch wieder seltener kommen wird. Aber genauso sicher weiß ich, dass ich momentan noch Zeit brauche. Ich bin ehrlich gespannt, was ich in einem Jahr über 2020 schreiben werde.

 

6 Kommentare bei „Jahresrückblick 2019 oder auch 365 Tage Schmerzen“

  1. Wünsche ein besseres 2020. ❤

  2. Liebe Indie,

    alles in allem klingt dein Jahresrückblick für mich nach einem „Lied auf das Leben“ – trotz allem! Da stimme ich gerne mit ein !
    Du scheinst dir im vergangenen Jahr selbst näher gekommen zu sein, „Friedensverhandlungen“ mit deiner „Lebensbegleiterin“ aufgenommen zu haben, und dich ein Stück weit befreien und öffnen können – für das, was auch immer ist und kommt.
    Vielleicht raubt uns unsere Erkrankung nicht nur Leben, sondern ermöglicht uns auch einen ANDEREN Blick auf unser Leben – und das kann ein wertvolles Geschenk sein!

    Ich wünsche dir alles Liebe und ein gutes 2020!
    Katrin

    Viva la Vida!

    1. Liebe Katrin,
      da magst du recht haben. Frei nach dem Motto: Wenn du den Feind nicht bekämpfen kannst, mach ihn dir zum Freund (oder so).
      Ich wünsche dir ebenfalls ein gutes 2020 und dass du bald wieder etwas mehr durchatmen kannst.
      Alles Liebe
      Indie

  3. Liebe Indie, ich habe gestern meine Unterlagen nach Kiel geschickt. Meine Hoffnungen sind groß. Wie hast du denn diese Zeit in der Klinik erlebt? Konntest du außer schlimmer Diagnose etwas mitnehmen? Mit welchem Antidepressivum kommst du denn zurecht? Viele Fragen, aber momentan habe ich das Gefühl nach all den Jahren mit chron. Migräne und Spannungskopfschmerzen und etlichen Prophylaxen wieder am Anfang zu stehen. Habe auch den letzten Versuch mit Aimovig nun abgebrochen. Evtl. starte ich auch noch einmal mit einem AD. Liebe Grüße, Nic

    1. Hallo Nic,
      bei deinen vielen Fragen habe ich dir einfach mal eine e-mail geschrieben.
      Liebe Grüße zurück!

Schreibe einen Kommentar zu Nic Antworten abbrechen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.